Project Description
Tre Giorni
Fortbewegung hat ja heute etwas ungeheuer Müheloses. Du steigst ins Auto, drückst den Knopf. Die Klimaanlage umfächelt dich mit gefilterter Luft in der Temperatur deiner Wahl. Assistenten sorgen dafür, dass du nicht die Spur verlässt. Selbst wenn du die archaischere Variante der Fortbewegung wählst, aufs Motorrad steigst, zählt bei vielen Zweirädern heute die Antischlupfregelung genauso zum Standard wie die Griffheizung.
Das Abenteuer verschwindet so langsam hinter Vollvisier-Helmen mit Freisprech-Einrichtung und klimatisierter Kleidung. Weil der Weg nicht mehr das Ziel ist. Sondern weil klar ist, dass du dort ankommst, wo du hin willst.
Das ist so ganz anders als zu der Zeit, in der die Fortbewegung wieder Fahrt aufgenommen hat. Und der Siegeszug eines Fahrzeugs beginnt, das es geschafft hat, immer wieder neu interpretiert zu werden, ohne komplett seine Gestalt und den Wohlklang seines Namens zu verlieren: die Vespa. 1951 hat sich Vespa beim legendären Sieg im Sechs-Tage-Rennen von Varese in die Geschichtsbücher eingebrannt. Neun Goldmedaillen holen sich die Rennfahrer mit ihrer speziell aufgebauten Vespa bei dem Gleichmäßigkeits-Wettbewerb über sechs Tage und härteste Strecken über hunderte von Kilometern, den Sei Giorni von Varese.
Natürlich – der Vergleich zu 1951 hinkt. Ein bisschen zumindest. Aber in diesem denkwürdigen Jahr 2020, das mit Corona, mit Lockdown erst in Italien, später auch in Deutschland, mit Reisewarnungen und Ungewissheit alles durcheinander wirbelt, muss ein bisschen Abenteuer trotzdem sein. Deshalb haben wir – Alex und Eric, alte Kumpels seit Schulzeiten – uns als nachträgliches Geschenk zu unseren 50. Geburtstagen in diesem eigenartigen Jahr im September drei Tage ausgesucht, um mit der Vespa nach Südtirol zu fahren. Klar, deutlich komfortabler als die Vespa Sei Giorni mit acht Zoll kleinen Reifchen und 125 Kubik von 1951. Mit der Vespa GTS. Mit 22 PS aber nicht zwingend das Pass-Monster und erst recht nicht der Reise-Gleiter.
Selbstverständlich ist auf der Reise der Weg das Ziel. Nicht mit dem Anhänger bis zum Brenner, sondern auf der eigenen Achse. Fliegen im Gesicht und auf der Brille unterm offenen Helm, Rucksack auf dem Rücken. Lächeln im Gesicht. Und alle 150 Kilometer kurze Pausen, weil der 278 Kubik große Viertakter den viel zu kleinen Tank leergesaugt hat.
Die Landschaft war schon lang nicht mehr so nah und so intensiv spürbar. Nach allem möglichen duftend. Und vor allem so intensiv kurvig. Bayreuth-Nürnberg-Ingolstadt, kurzer Stopp, um den gerissenen Krümmer der schwarzen Vespa von Alex beim Vespa-Doktor von Ingolstadt, Zweiradsport Zaso, schweißen zu lassen. Dann weiter über Holzkirchen, den Tegernsee, Achensee, Felbertauern und den Staller Sattel ins Pustertal. Erste Erkenntnis bei einem Glas St. Magdalener am Abend: Andere brauchen auch acht Stunden reine Fahrzeit, um sich auf der Autobahn klimatisiert nach Südtirol zu stauen. Weil der Verkehr ein Wahnsinn ist.
Tag zwei der Tre Giorni ist der Tag der Pässe. Alles rund um die Sella ist unsere Welt. Die GTS frisst Höhenmeter um Höhenmeter, der Akrapovic ballert Lebensfreude im Schiebebetrieb vor jede Kehre. Knallt, dass die Kühe auf der Weide auf 2500 Metern Höhe große Augen machen. Pordoi, Giau, Falzarego, Campolongo. Dazwischen der kritische Blick auf die Tankuhr. Frischen Saft holen an einer der wenigen Zapfsäulen – und weiter. Ein Tag, an dem wir uns ziemlich einzigartig fühlen können. Denn: Vespa fährt da oben kaum einer. Die dicken japanischen Roller, ja. Aber: Statt mit der GTS sind sie sonst fast alle mit der GS unterwegs. Vollgehängt mit Alukoffern, vor Kraft und Fahrkomfort strotzend. Oder sie wuchten amerikanisches Eisen um die Kehren, sprühen Funken mit ihren Trittbrettern. Die Männer mit den langen Bärten sind noch am ehesten bereit, mit einem Lächeln den Daumen nach oben zu recken. Cool, Man!
Die GTS zeigt, dass überschaubares Gewicht und überschaubare Leistung in Kombination keine Spaßbremse sind – im Gegenteil: Wenn die Geraden nicht lang genug sind, ist die Zahl der Gegner eher gering. Das Gefühl, zu den Gipfeln zu schauen oder den weiten Blick ins Tal schweifen zu lassen, aber mit nichts zu bezahlen.
Was den Abschied auch verdammt schwer macht am dritten und letzten Tag. Die Gewissheit, dass die Zahl der Kehren mit jedem Meter Richtung Norden kleiner wird. Die Zahl der Geraden zunimmt. Noch einmal den Staller Sattel hoch, jede Kurve auskosten, Höhenluft aufsaugen. Über Felbertauern rüber nach Zell am See. Nach Lofer, Richtung Rossfeld. Und dann halt doch irgendwie über den halbwegs direkten Weg nach Hause. 1700 Kilometer an drei Tagen. Tre Giorni 2020. Ein kleines Abenteuer, das Lust auf mehr macht. Vielleicht mal sei giorni lang – handgeschaltet und mit einem Zweitakter unter der dicken rechten Backe. Fast wie damals, 1951. Weil mühelos – das kann ja heute jeder.